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So sieht sie aus, unsere neue Realität: improvisieren, Lösungen basteln, uns zerreißen, kreativ werden. Um irgendwie Unterricht für unsere Kinder möglich zu machen. Für Eltern und Lehrkräfte ist das Homeschooling der letzten Wochen eine Mammutaufgabe gewesen. Aber eine, an der wir gewachsen, ja förmlich über uns hinausgewachsen sind. Konnten viele von uns dem digitalen Unterricht noch vor wenigen Monaten nicht viel abgewinnen, setzen wir uns jetzt intensiv damit auseinander, zeigen uns offen für Neues und schlagen sogar eigene Lösungen vor.

Da wird er sichtbar, der Wille zur Veränderung. Endlich!

Diesen Willen, unser Schulsystem neu zu denken, es ins 21. Jahrhundert zu bringen, vermisse ich seit Jahren in der Bildungspolitik. Stattdessen: Diskussionen um Machbarkeit und Zuständigkeit gepaart mit Ideenlosigkeit und einem fehlenden Gefühl für Dringlichkeit. Und so zeigt sich in dieser Krise einmal mehr: Bildungspolitik in Deutschland ist Politik ohne Vision. In tradierten Strukturen. Und ohne Mut.

Obwohl es nie so einfach war, mutig zu sein.

Denn wir sind bereits vor acht Wochen alle gemeinsam ins kalte Wasser gesprungen und schwimmen seitdem.

Jetzt ist die große Frage, ob wir bald umdrehen und ans altvertraute Ufer zurückkehren. Um uns dort dann abzutrocknen, unsere Homeschooling-Wunden zu lecken und uns zu freuen, dass wir den Ausflug unbeschadet überstanden haben.

Oder ob wir uns trauen, weiter zu schwimmen, neue Gewässer zu erkunden, ein Stück Kontrolle abzugeben, Unsicherheit auszuhalten und mit einer neuen Bildungslandschaft belohnt zu werden.

Auf zu neuen Ufern!

Denn sehr wahrscheinlich ist: Das gesamte Schuljahr 2020/2021 wird ein hybrides Schuljahr sein, in dem unsere Kinder zwischen Schule und Homeschooling pendeln. In wechselnden Konstellationen.

Seit Jahrzehnten gab es nicht mehr so viel Bereitschaft, Schule neu zu denken wie jetzt. Nutzen wir sie! Der Neurobiologe und Bestsellerautor, Prof. Gerald Hüther, der 2020 das Buch #EducationForFuture veröffentlicht hat, beschreibt das mit: “Es muss uns unter die Haut gehen, es muss uns wirklich berühren. Dann können wir uns ändern.”

Oder anders: You have to have skin in the game. Und genau das haben wir gerade. Jede Schulleiterin, jeder Lehrer, jede Mutter, jeder Schüler – alle sind gerade Teil eines großen Bildungsexperiments. Mit täglichem Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn. Wir haben jetzt neue Bilder im Kopf, wie Schule auch sein kann.

Nutzen wir diese Bilder und trauen uns, mit der Schule von morgen zu starten, ohne der Schule von gestern hinterher zu trauern.

Hier kommt der Aktionsplan, den wir jetzt umsetzen müssen:

1. Geräte für alle

Teilen wir die 5 Milliarden Euro des Digitalpakts durch die 43.000 Schulen in unserem Land und stellen wir jeder Schule jetzt sofort etwa 115.000 Euro für Geräte und WLAN zur Verfügung.

Ohne Bürokratie, Formulare oder Medienkonzepte. Und noch besser: Nehmen wir zusätzlich 1,5 Prozent des Nachtragshaushalts, das sind etwa 2 Milliarden Euro, und legen sie obendrauf, um davon Geräte für jene 2,4 Millionen Kinder und Jugendliche zu beschaffen, die laut des Verbandes Bildung und Erziehung aufgrund fehlender Tablets oder Laptops bisher nicht am digitalen Unterricht teilnehmen konnten. Einzige Voraussetzung für die sofortige Ausschüttung: die Schulen dürfen ihre Dividende nur in Naturalien, also Bildung, zahlen.

2. Revolution von unten

Starten wir noch vor den Sommerferien, vom 8. bis 14. Juni, mit Lehrkräften, Eltern, Schülern und Schülerinnen einen deutschlandweiten Hackathon nach dem großartigen Vorbild des #WirvsVirus-Hackathons der Bundesregierung, der im März stattfand. Eine Revolution von unten, #WirfürSchule. Während des Hackathons ruht das Curriculum. Es geht einzig darum, die (hybride) Schule neu zu denken – von fächerübergreifenden Lernprojekten über Corona-adäquate Pausenspiele bis hin zu technischen Lösungen, die Soforthilfe für die Schulen bedeuten. In einem Online-Wettbewerb werden die tausend besten Ideen prämiert und auf einer Plattform für alle Schulen zugänglich gemacht. Mit diesem Rückenwind an Energie und konkreten Lösungsvorschlägen starten wir dann nach den Sommerferien ins neue Schuljahr.

3. Renaissance der Kreativität

Um dort Zeit und Raum zu haben, die Lernprojekte des Hackathons weiterzudenken und umzusetzen, führen wir den von der Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld erdachten Frei-Day ein. Sie ist Mitbegründerin von “Schule im Aufbruch” und möchte das Kreativsein in unserem neuen Schulalltag verankern. Der Frei-Day wird Treiber für Kreativität und Innovationskraft, Gestaltungsraum für das Neue und eine nachhaltige Chance für fächerübergreifende Projekte und das Erlernen von Zukunftskompetenzen wie Teamfähigkeit, Frustrationstoleranz, Resilienz und Problemlösefähigkeit. Mit dem Ziel, dass unsere Kinder nicht Konsumenten, sondern Gestalter der Welt von morgen werden.

4. Update der Lehrerfortbildung

Die Plattform lehrermarktplatz.de hat eine Umfrage mit über 1000 Lehrerinnen und Lehrern gemacht. Mit spannendem Ergebnis: 91,1% der Befragten können sich inzwischen vorstellen, digitale Tools auch nach den Schulschließungen für den Unterricht zu nutzen. Menschen, die sich noch vor kurzer Zeit selbst als “Bedenkenträger” und “risikoavers” beschrieben haben, legen plötzlich ein verändertes Selbstverständnis an den Tag und empfinden sich als mutig und innovationsfreudig. Nutzen wir diese Lernbereitschaft für die Lehrerfortbildung! Bringen wir über die Sommerferien eine Website an den Start, die transparent alle digitalen Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte auflistet und als offizieller Teil der Lehrerfortbildung anerkannt wird. Plattformen wie fobizz machen vor, wie die digitalen Lehrerfortbildungsinstitute der Zukunft aussehen könnten.

5. More power to the Schulleitung

Statten wir die Schulleitungen mit Budget aus und lassen sie ihre Schulen selbst weiterdenken. Sie kennen ihr Kollegium, ihre Schülerschaft sowie die Herausforderungen vor Ort am besten. Ob sie die Flure zu erweiterten Klassenzimmern umbauen, einen Makerspace schaffen oder das Geld in den Pausenhof stecken, ist ihnen überlassen. Trauen wir ihnen zu, diese Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen. Geben wir ihnen das Rüstzeug dafür mit und befähigen sie in Aus- und Fortbildung dazu, den Lernort Schule neu zu denken und die Transformation ihrer Schule zu meistern. Ich bin mir sicher: Wir werden belohnt mit besseren Schulen und einem neuen Wir-Gefühl, Best Practice zu teilen und kreative Ideen umsetzen zu dürfen.

Geben wir mit diesem Aktionsplan jetzt den Startschuss für eine Ausbildung und Schulzeit, die unsere Kinder zu mündigen, kreativen und kritischen Weltbürgern macht und bringen wir ihnen heute die Zukunftskompetenzen bei, die sie morgen brauchen werden.

Das muss unser Bildungsvermächtnis sein.

Diesen Artikel habe ich zusätzlich auf ThePioneer und LinkedIn veröffentlicht.