Deutschland ist ein alterndes, kinderarmes Land. Wenn in den nächsten Jahren die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in den Ruhestand gehen, werden die nachfolgenden Generationen diese Lücke nicht schließen können. Sebastian Dettmers beschreibt in seinem Buch „Arbeiterlosigkeit“, wie ernst die Krise ist, die unserer Gesellschaft bevorsteht. Dem Ifo-Institut zufolge, sind fast die Hälfte aller Unternehmen vom Fachkräftemangel betroffen. Der Startup Verband meldet bei 9 von 10 Startups offene Stellen und alleine im IT-Bereich gibt es laut Bitkom aktuell 137.000 Vakanzen. Tendenz weiter steigend. Bis 2030 fehlen dem Arbeitsmarkt fünf Millionen Menschen, hat der Arbeitgeberverband BDA errechnet.
Im Handwerk sieht die Lage noch düsterer aus, dort beklagt der Zentralverband des deutschen Handwerks rund 250.000 fehlende Handwerker:innen. Die größten Probleme haben laut Institut der deutschen Wirtschaft Betriebe aus der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik und der Bauelektrik. Eine ungünstige Entwicklung in einer Zeit, in der der Ausbau erneuerbarer Energien so wichtig ist wie nie zuvor.
Was können wir 2023 also tun, um Fachkräfte-Weltmeister zu werden?
Als erstes müssen wir die stillen Reserven in unserer Bevölkerung heben – die Frauen. Dem statistischen Bundesamt zufolge waren im Jahr 2020 rund 72 Prozent der erwerbsfähigen Frauen in Deutschland berufstätig. Laut BMWK hat fast die Hälfte der 5 Millionen Frauen, die nicht arbeiten, als Grund für ihre Erwerbslosigkeit die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten von Kindern und Familienangehörigen angegeben. Nicht jede Frau muss arbeiten wollen. Aber jede Frau, die will, sollte können. Dass die fehlende Kinderbetreuung ein massiver Grund dafür ist, dass viele Frauen nicht können belegt eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung, nach der im kommenden Jahr 380.000 Kita-Plätze in Deutschland fehlen. Auch hier macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar. Der Beruf Erzieher:in wird zu schlecht bezahlt und erhält zu wenig Wertschätzung. Wenn wir hier ansetzen und den Ausbau der Kitaplätze und Ganztagsschulen konsequent vorantreiben und Erzieher:innen besser bezahlen dann können deutlich mehr Frauen arbeiten gehen. Das Potenzial der heute nicht oder in Teilzeit erwerbstätigen Mütter mit kleinen Kindern unter sechs Jahren liegt bei knapp 840.000 Personen, so das Institut der deutschen Wirtschaft. Dieses Potential dürfen wir nicht ungenutzt lassen.
Zweitens brauchen wir mehr Mut und Umsetzungskraft bei der digitalen Aus- und Weiterbildung. Wir können uns die Fachkräfte nicht herbeizaubern, aber wir können deutlich besser für den Arbeitsmarkt der Zukunft ausbilden. Seit Ende der 90er Jahre, hat eine beispiellose Disruption begonnen, die unsere Welt in vielen Bereichen transformiert und immer weiter digitalisiert. Deutschland hat diesen Trend erst spät wahrgenommen und dümpelt in der digitalen Wettbewerbsfähigkeit im IMD World Competitiveness Ranking auf Platz 15, während China in den letzten sechs Jahren von Platz 35 auf Platz 7 gestiegen ist. Das World Economic Forum hat analysiert, dass 65 Prozent aller heutigen Grundschulkinder später in Jobs arbeiten werden, die wir heute noch gar nicht kennen. Darauf müssen wir viel schneller reagieren, als es unser föderalistisches Bildungssystem zulässt und unsere Kinder zu digitalen Gestalter:innen der Zukunft ausbilden. Wie das funktionieren kann, zeigt das kleine Estland. Dort gibt es überall kostenloses Internet und ab der 1. Klasse haben Kinder Zugang zu persönlicher Hardware, wie Tablets und Laptops. Coding ist Pflichtfach und an jeder Schule unterstützt ein “Education Technologist” die Inbetriebnahme und Nutzung digitaler Programme. Digitale Bildung ist Teil der Lehrkräfteausbildung und regelmäßige Fortbildungen sind Standard. Platz 1 des PISA-Rankings in der EU ist das Ergebnis. Allein die Einstellung der Est:innen “Wie mache ich Bildung möglichst einfach und digital” würde hier bei uns schon Berge versetzen.
Drittens müssen wir beim Thema Handwerker-Nachwuchs den Turbo zünden. Handwerker verdienen typischerweise weniger als Arbeiter in der Industrie. Aber genau ihre Kreativität und Problemlösekompetenz brauchen wir für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir könnten das Handwerk deutlich höher vergüten, wenn es eine höhere Verlässlichkeit, Standardisierung und Digitalisierung der Leistungserbringung gäbe. Genau da muss die Transformation und Ausbildung des Handwerks ansetzen. Es kann nicht sein, dass in einer 3,5 Jahre langen Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik nur 8 Stunden auf die Schulung der Wärmepumpe entfallen, die künftig mit 80 bis 90 Prozent die Zukunft unserer Wärmeversorgung ausmachen soll.
Außerdem brauchen wir ein neues Narrativ und mehr gesellschaftliche Wertschätzung für unser Handwerk, damit das Studium nicht mehr als das Maß aller Dinge gilt. Handwerker:innen sind nicht mehr die “Macht von nebenan”, sondern die Möglichmacher:innen für die Transformation unseres Landes. Das ist das Bild, welches wir unseren Kindern vermitteln sollten.
Aber selbst wenn alle zuvor genannten Hebel umgelegt würden, würde es nicht reichen, unseren Bedarf an Fachkräften zu decken. Deshalb ist der vierte wichtige Schritt, die im Koalitionsvertrag verankerte Modernisierung des Einwanderungsrechts in 2023 umzusetzen.
Laut Erhebung der Berliner Humboldt-Universität müssten jedes Jahr 400.000 qualifizierte Menschen nach Deutschland einwandern, um die Lücke zu schließen. Wie das funktionieren könnte, zeigt das kanadische Punktesystem, über das 60 Prozent der Einwanderer nach Kanada kommen. Noch stehen die Bundesbürger:innen mehr Zuwanderung skeptisch gegenüber und sind laut einer Umfrage des Ifo Instituts der Meinung, Aus- und Weiterbildung von vor allem Langzeitarbeitslosen würden genügen, um das Problem zu lösen. Über diesen Weg haben im vergangenen Jahr 312.000 langzeitarbeitslose Menschen eine Berufsausbildung oder eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme begonnen. Nicht annähernd genug, um den Bedarf zu decken. Daher brauchen wir ein grundsätzliches Umdenken beim Thema qualifizierte Zuwanderung und müssen die Eingliederung von zugewanderten Fachkräften in den Arbeitsmarkt so einfach und schnell wie möglich machen.
All die hier beschriebenen Hebel können wir 2023 aus eigener Kraft umlegen. Alle Maßnahmen eint, dass sie zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Wohlstand führen. Mir macht es Mut, dass wir so viele Bälle haben, die auf dem Elfmeterpunkt liegen. Jetzt müssen wir sie nur noch ins Tor schießen, um Fachkräfte-Weltmeister zu werden.
All die hier beschriebenen Hebel können wir 2023 aus eigener Kraft umlegen. Alle Maßnahmen eint, dass sie zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Wohlstand führen.
Mir macht es Mut, dass wir so viele Bälle haben, die auf dem Elfmeterpunkt liegen. Jetzt müssen wir sie nur noch ins Tor schießen, um Fachkräfte-Weltmeister zu werden.
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Dieser Artikel erschien zuerst bei The Pioneer.